Praxistest: VIA Selbstschreibende Notizen
Selbstschreibende Notizen – wie die Dokumentations KI VIA meine Therapiedokumentation verändert hat

„AI is about amplifying human potential, not replacing it.“ — Satya Nadella, CEO von Microsoft
(Techpoint Africa – 100 of My Favorite Artificial Intelligence Quotes)
Mit diesem Zitat beginne ich gerne, meine Erfahrung mit VIA zu schildern. Die KI-Protokoll-Software verbessert meiner Meinung nach die Arbeit in der psychotherapeutischen Praxis erheblich – vorausgesetzt, man weiß, wie man sie sinnvoll einsetzt. Ich möchte im Folgenden meinen persönlichen Weg dorthin kurz skizzieren, anschließend auf den Einsatz in meiner Praxis eingehen und zum Schluss einige Gedanken zum allgemeinen Potenzial von KI-gestützter Dokumentation in der Psychotherapie teilen.
1. Dokumentation als Zeitfresser – und Qualitätsfrage
Anfang 2024 bemerkte ich, wie viel Zeit ich sowohl nach den Sitzungen mit handschriftlicher Dokumentation (Zettel und Stift) als auch während der Sitzungen selbst – insbesondere bei probatorischen Sitzungen und Erstkontakten – mit Mitschreiben verbrachte. Das lenkte mich vom eigentlichen therapeutischen Kontakt ab. Ich war weniger präsent, weniger achtsam. Hinzu kommt, dass ich eine Schwerbehinderung an den Händen habe, was das Schreiben zusätzlich mühsam und langsam macht.
Neben der Dokumentationspflicht sehe ich den Wert schriftlicher Verlaufsnotizen vor allem darin, zentrale Inhalte zu sichern, Kernaussagen zu erinnern oder zu erkennen, welche Themen bereits aufgegriffen wurden – insbesondere bei Anträgen, die sich nicht allein durch Fragebögen abbilden lassen.
2. Zwischenlösungen und Sackgassen: Diktieren als Kompromiss
Nach einiger Zeit begann ich, meine Sitzungen zu diktieren. Das löste allerdings nicht das Problem, dass ich während der Sitzung weiterhin mitschreiben musste. Auch das Diktieren selbst war für mich anstrengend und stark tagesformabhängig.
3. VIA im Praxisalltag: Technische Einführung und erste Schritte
Hier zeigte sich eine der großen Stärken von VIA: Die KI kennt kein „müde“, kein „unkonzentriert“. Die Qualität der Notizen ist konstant hoch – ein stabiler Faktor, der mir Sicherheit gibt.
Da ich technikaffin bin, machte ich mich – inspiriert durch ChatGPT – auf die Suche und stieß schließlich auf zwei Start-ups aus Deutschland, die ich zu testen bereit war. Eines davon war – wie Sie sich denken können – VIA (und bei diesem bin ich dann auch geblieben).
Nach einer sehr freundlichen und kompetenten Einführung, in der all meine Fragen, auch zu technischen Themen wie Serverstandorten, Datenschutz und Bedienung, ausführlich und präzise beantwortet wurden, begann die Testphase. Mir wurde sogar eine Verlängerung angeboten, da ich währenddessen verreisen wollte.
4. Integration in die Praxis: Datenschutz, Technik und Akzeptanz
Nach dem Anschluss meines RODE-Standmikrofons und eines aktuellen Laptops konnte ich direkt loslegen – da VIA webbasiert ist, war keine zusätzliche Installation notwendig.
Nach einer datenschutzkonformen Aufklärung meiner Klient*innen, der ausnahmslos alle zugestimmt haben (einige waren sogar positiv überrascht und baten darum, die Aufnahme gemeinsam zu besprechen), konnte ich VIA gut in den Praxisalltag integrieren.
5. Von der Testphase zur persönlichen Routine
Im Testzeitraum kam es zu nahezu keinen Ausfällen. Ich erinnere mich nur an ein Protokoll, das nicht vollständig aufgenommen wurde. Die meisten Fehler lagen bei mir – etwa wenn ich vergaß, die Sitzung aufzuzeichnen, oder der PC in den Ruhemodus ging. Nach kurzer Eingewöhnung traten solche Störungen kaum noch auf, und mittlerweile – nach rund drei Monaten – ist VIA für mich zur Routine geworden.
6. Funktionen, die überzeugen: Von Verlaufsnotiz bis Rollenspielanalyse
Die Software ist vorkonfiguriert, sodass man auswählen kann, mit welchem der vier Leitlinienverfahren man arbeitet, welche Person interviewt wird und welche Art von Gespräch stattfindet. Besonders hilfreich finde ich die differenzierte Ausgabeform von Sprechstunden, biografischer Anamnese sowie kurzen und langen Verlaufsnotizen – ich nutze all diese Varianten regelmäßig.
Einige Highlights waren für mich insbesondere, dass VIA eigenständig erkennt, ob ich mit Klientinnen z. B. ein Rollenspiel durchführe, eine Verhaltensanalyse (ich bin Verhaltenstherapeut), ressourcenorientiert arbeite oder Imaginationstechniken einsetze. Die Software bildet dafür automatisch passende Unterthemen. Besonders bemerkenswert: Wörtliche Zitate der Klientinnen, die ich selbst genau so in mein Protokoll aufgenommen hätte, wurden treffend erkannt und eingebaut.
7. Standardisierung und Individualisierung im Protokoll
Der Clou: Wenn man die Protokolle beispielsweise im Abrechnungssystem hinterlegt, ergibt sich ein vollständiger Therapieverlauf. Auch standardisierte Inhalte, die man dokumentieren muss (z. B. psychopathologische Befunde), werden automatisch miterfasst – z. B. in den Verlaufsnotizen.
Man kann sogar die Audiodateien selbst herunterladen – nicht nur die Zusammenfassungen. Ich habe sie mehrfach genutzt, um z. B. Traumaexpositionen den Patient*innen mitzugeben.
Insgesamt empfinde ich den Einsatz von VIA als sehr hilfreich.
8. Datenschutz: Berechtigte Sorge und pragmatische Einschätzung
Natürlich stellt sich auch hier die „große Frage“ bzw. der sprichwörtliche Elefant im Raum: Was passiert mit den Transkripten? Was, wenn sie gestohlen oder gehackt werden? Hilfreich ist aus meiner Sicht, dass VIA laut eigener Aussage die Transkripte täglich um Mitternacht automatisch löscht und die KI selbst keine Daten zum Selbstlernen verwendet. Das macht das System aus meiner Sicht sicherer als klassische Cloud-Lösungen, bei denen Daten dauerhaft gespeichert werden.
Als Praxisinhaber bin ich ohnehin für die weitere Aufbewahrung verantwortlich. Ich persönlich versuche, Daten „sicher genug“ zu verwahren. Was ich oft von Kolleg*innen als Totschlagargument höre – „Die Daten könnten ja gehackt werden!“ – empfinde ich als etwas unfair. Denn auch in eine Praxis kann eingebrochen werden, und wenn dort physische Protokolle mit Klarnamen gestohlen werden, ist der Schaden vermutlich größer.
Meine Praxistür – so schön und stabil sie ist – erscheint mir jedenfalls weniger sicher als die Firewalls bei VIA. Aber natürlich ist mir bewusst, dass es hier um meine persönliche Einschätzung geht und nicht um absolute Sicherheit (wann hat man die schon im Leben).
9. Reflexion: Mehr als nur Dokumentation
Als Psychotherapeut bin ich immer wieder auf der Suche nach Tools, die mich im Praxisalltag wirklich entlasten – nicht auf Kosten der Qualität, sondern im besten Fall zu ihrem Vorteil. VIA war für mich in dieser Hinsicht eine echte Überraschung: Eine KI-gestützte Software, die nicht nur automatisch mitschreibt, sondern auch erkennt, was wirklich passiert. SORK-Analysen, Rollenspiele, sogar die Stimmung des Patienten wird im Verlauf richtig wiedergegeben – all das wird erstaunlich präzise erfasst und sinnvoll eingeordnet.
10. Qualitätssicherung durch KI – ein kleiner Blick in die Zukunft
Wenn man den Einsatz von VIA weiterdenkt und nicht nur als Dokumentationshilfe versteht, sondern als Analyse- und Reflexionsinstrument, wird schnell deutlich, welches Potenzial für die Qualitätssicherung in der therapeutischen Arbeit darin stecken könnte. Ein gutes Beispiel dafür liefert die Studie zum Projekt TherapyView: Dort wurde gezeigt, wie KI durch thematische Verlaufsanalysen und visuelle Aufbereitung dazu beitragen kann, Therapieprozesse transparenter zu gestalten, Schwerpunkte gezielter zu setzen und Entwicklungen systematischer nachzuvollziehen. In Kombination mit professioneller Erfahrung kann so eine neue Form von Meta-Arbeit entstehen, die auch der Supervision oder Selbstevaluation dienlich sein kann (Lin, Zecevic & Bouneffouf, 2023).
11. Grenzen und Wünsche: Kein Ersatz für Intuition
Nichtsdestotrotz bin ich mir bewusst, dass wir uns nicht zu sehr auf KI verlassen sollten – vielleicht leidet sonst sogar unsere Kreativität. Zudem gibt VIA beim Dokumentieren eine gewisse inhaltliche Richtung vor. Die Entwickler*innen haben dem, glaube ich, bereits entgegengewirkt, indem man die Software inzwischen mit eigenen Prompts anpassen kann, z. B. welche Inhalte transkribiert oder wie sie zusammengefasst werden. Von diesem Feature habe ich bisher noch keinen Gebrauch gemacht, da ich mit der Standardqualität bereits sehr zufrieden bin.
Zum Schluss ein kleiner Wunsch: Das Sahnehäubchen für mich persönlich wäre eine eigene Verlaufsnotiz-Vorlage speziell für probatorische Sitzungen – hier sehe ich derzeit noch eine kleine Lücke. Aber das ist Kritik auf sehr hohem Niveau. Im Praxisalltag möchte ich das Programm nicht mehr missen. Ich bemerke zunehmend, dass ich im Patientenkontakt selbst ruhiger sein kann – gerade weil ich früher oft dachte: „Das muss ich notieren, um nichts Wichtiges zu vergessen.“ Aber das ist vermutlich ein Thema für die Selbsterfahrung – und nicht für diesen Blogpost 😉.
12. Hinweis für interessierte Kolleg*innen
Und vielleicht noch ein abschließender Hinweis für Kolleginnen, die neugierig geworden sind:
Falls Sie selbst überlegen, VIA (Link:
zu
VIA) in Ihrer Praxis zu erproben, kann ich nur zur Neugier ermutigen. Ich habe persönlich sehr gute Erfahrungen mit dem Einstieg gemacht und stehe dem Austausch unter Kolleginnen immer offen gegenüber. Sollten Sie also mit dem Gedanken spielen, VIA zu testen, dürfen Sie sich dort gerne auf mich beziehen – vielleicht erleichtert das den Einstieg ein wenig.
Quelle:
Lin, Z., Zecevic, D., & Bouneffouf, D. (2023). TherapyView: Visualizing Therapy Sessions with Temporal Topic Modeling and AI-Generated Arts. arXiv.
https://arxiv.org/abs/2302.10845
